23.09.2011

Berlin-Wahl: Die Stimmen der Unzufriedenheit

Der Erfolg der Berliner Piratenpartei mutet an wie ein trojanisches Pferd der Unzufriedenheit inmitten der politischen Landschaft der Bundeshauptstadt. Das Wahlergebnis zeigt, wo Risse durch die lange Zeit so wehrhaften Mauern der etablierten politischen Kaste gehen. Aus der Vogelperspektive sieht es aus, als hätten die Berliner die Piraten als Wachposten ins Parlament geschickt, um nicht mehr draußen zu stehen: draußen vorm Parlament, draußen bei der politischen Entscheidungsfindung, draußen bei der Umgestaltung ihrer Stadt.

Konstruktive Unzufriedenheit statt destruktiver Wut

Die Piraten haben ihren Wahlkampf auf den Ausgrenzungsfrust besonders junger Hauptstädter ausgerichtet: „Wie schafft man es, diesen Wunsch der Berliner, sich aktiv in die Politik einzubringen, auch stärker ins Abgeordnetenhaus mitzunehmen?“ benennt Spitzenpirat Andreas Baum die definierende Frage hinter der Wahlstrategie seiner Partei. Von Politik mag der Mann keine Ahnung haben, aber genau das mag auch einen Teil seines Erfolgs ausmachen – für seine Wähler wirkt er wie „einer von ihnen“. Ihre Bedürfnisse zumindest kennt er scheinbar besser als so mancher Konkurrent. Von Politikverdrossenheit jedenfalls zeugt das amtliche Endergebnis von 8,9 Prozent für die Piratenpartei nicht.

Das Ergebnis der Berliner Landtagswahlen hat Signalwirkung für die Enttäuschung der Bürger über ihre gewählten Vertreter weit über die Hauptstadt hinaus. Auch Spiegel online diagnostizierte die Unzufriedenheit, die sich am Erfolg der Piraten manifestiert: „Er steht für ein Versagen der deutschen (Bundes-)Politik in Sachen Gegenwart, das viele gebildete junge Menschen zumindest in der Bundeshauptstadt offenbar nicht länger zu akzeptieren bereit sind.“

Schnell ist bei solchen Konstellationen das Klischee von der Protestwahl zur Hand, und gewiss: Für die Detailqualität ihres Wahlprogramms sind die Piraten sicher nicht gewählt worden. Auch nicht für ihre spezifischen Wahlversprechen, denn freie Fahrt im öffentlichen Nahverkehr und kostenlose Privatschulen wird auch der fantasievollste Berliner in diesem Leben nicht mehr zu erleben erwarten. Die demografische Verteilung der Piratenstimmen aber zeigt, dass Wählern beinahe aller Schichten – insbesondere jedoch den jüngeren, netzwerkaffinen und damit als Multiplikatoren tauglichen Gebildeten – ihre Stimmen nicht mehr zu schade sind, um über politisches Laientum hinwegzusehen, wenn sich damit die Flagge der demokratischen Unzufriedenheit in ein Parlament rammen lässt.

Und diese Kontaminierung des Establishments wird ihre Wirkung auch operativ nicht verfehlen: Mit 15 Sitzen können die Piraten im Abgeordnetenhaus durchaus für Unruhe sorgen, zumal sie etwa bei der Verkehrspolitik, den Mieten – zwei der entscheidenden Wahlkampfthemen der Etablierten – und anderen sozialen Anliegen nicht lange nach Schnittmengen mit den Grünen oder auch der Linkspartei werden suchen müssen. Angst vor den alten Leitwölfen jedenfalls zeigen sie nicht; das kann man umgekehrt nicht behaupten.

Vertrauen, Mut und Drecksarbeit als Wege aus der Unzufriedenheit

Was aber hat fast neun Prozent der Berliner dazu veranlasst, ihre Stimme zur Stimme der Unzufriedenheit zu machen? So konkret gefragt kommt man nicht umhin, den Politik-Anfängern einen PR-Coup zuzugestehen: Es waren die Werte, die Themenwahl und die Lösungsorientierung. Genau das also, was der Wähler in einer funktionierenden Demokratie eigentlich erwarten darf – und was die etablierten  Parteien mit ihrer Wahlkampferfahrung besser können sollten.

Da wäre an oberster Stelle die Verpflichtung zu mehr Transparenz und Ehrlichkeit in der Politik. Die Piraten sind auf der Höhe der Zeit, wenn es darum geht, die Bedürfnisse der Wähler zu erkennen und zu bedienen – zumindest rhetorisch, denn alles andere wäre an diesem Punkt Fiktion. Stuttgart 21 und andere politische Baustellen der letzten Jahre haben mehr als deutlich gezeigt, dass in der Beziehung zwischen Politikern und Bevölkerung vor allem eines fehlt: Vertrauen. Mit ihrer Doppelzüngigkeit hat die politische Wertekultur massiv an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Schaffen die etablierten Parteien es nicht, den Vertrauensaufbau unverzüglich und mit Hochdruck anzugehen, könnten die Ergebnisse der nächsten Wahlen – zumal der nächsten Berlin-Wahlen – für sie noch weitaus dramatischer zu Buche schlagen. Auch die SPD wäre wohl noch deutlicher eingebrochen, wäre statt dem beliebten Wowereit einer der farbloseren Parteimeier angetreten.

Ein weiteres Erfolgsgeheimnis der Piraten ist die Themenwahl. Die jungen Wilden haben sich nämlich mit Netzkultur, Datenschutz, Suchtpolitik und sozialer Gleichberechtigung jene Filetstücke aus dem realpolitischen Einheitsbrei gefischt, die vielen Wählern diesseits der Rente (also den zukunftsrelevanten) unter den Nägeln brennen, die aber die politischen Platzhirsche wenn überhaupt nur mit der Kneifzange anfassen – wohl gerade weil man sich an ihnen schnell die Finger verbrennt. Politischer Mut wird in Deutschland also durchaus belohnt, und zwar nicht nur, wenn er sarrazinisch destruktiv daherkommt.

Der dritte Eckpfeiler des Piratenerfolgs schließlich sind die radikalen Lösungsvorschläge, für die die Piraten stehen. So unrealistisch viele von ihnen sein mögen und so schnell viele davon auch an der politischen Realität einer Welt- und Hauptstadt zerschellen werden: Den Bürgern sind solche Vorstöße in akuten Lebensfragen allemal sympathischer als die weltfremden Nebenkriegsschauplätze, rhetorischen Nebelbomben und internen Machtscharmützel des politischen Establishments.  

Diese Erfolgstrilogie umreißt auch die Warnung, die das Berliner Wahlergebnis den etablierten Parteien für die nächsten Jahre mit auf den Weg gibt: Wer sich einen Dreck um das Vertrauen der Bevölkerung schert, sich von überlebenswichtigen Bürgerthemen fernhält und mehr mit dem Machterhalt beschäftigt ist als mit der Arbeit an dringenden Problemlösungen, der kann ganz schnell runtergepfiffen werden von der politischen Bühne. Die FDP kann dieser Tage ein Lied davon singen, wie radikal die Abstrafungsreaktion der sich formierenden gesellschaftlichen Wertegemeinschaft ausfallen kann.

Der Weg in die Zukunft führt geradewegs durch die bürgerliche Unzufriedenheit

Wie viel die Stimmen der Unzufriedenheit in der Berliner Landespolitik faktisch auszurichten vermögen, werden die nächsten Jahre zeigen. Gewiss besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass das Piratenschiff ebenso schnell wieder sinkt, wie es U-Boot-artig in der Landesregierung aufgetaucht ist. Der größte Fehler, den wir jetzt machen könnten, wäre jedoch, die demokratische Signalwirkung dieser Wahl allein am Erfolg der Piratenpartei festzumachen; die Unzufriedenheit, die hier zum Tragen kommt, geht weit über Berlin und weit über eine vermeintlich anarchische Minderheitenkultur hinaus. Ein Kleinreden dieses Wahlergebnisses zu jugendlich-leichtsinniger Protestwählerei wäre deshalb ein Armutszeugnis für jeden Politiker, der sich dazu herablässt. Und trotz aller gesellschaftlichen Schnelllebigkeit auch gefährlich, wie Wissenschaftler inzwischen einräumen: „Parteienforscher wie der Politologe Oskar Niedermayer sehen mit dem Markenkern ‚Transparenz‘ eine gefährliche Konkurrenz zu den etablierten Parteien aufziehen.“

Die etablierten Parteien und alle an sie gebundenen Instanzen, nicht zuletzt aber auch die politisch involvierten Eckpfeiler der Wirtschaft müssen sich zu der Erkenntnis durchringen, dass das Aufbegehren aus der Mitte der Gesellschaft, das weit über die urbanen Mythen von Wutbürgern und vermeintlich apolitischen Protestwählern hinausgeht, spätestens mit der Berlin-Wahl zur politischen Realität geworden ist. Die Piratenwähler sind nur eine sichtbare Gruppe, die einen Kanal für ihre Unzufriedenheit gefunden hat und zeigt, dass die Bereitschaft zu drastischen demokratischen Maßnahmen wächst. Unzufrieden sind nicht nur sie, sondern viele, viele mehr. Parteien, Institutionen, Denker und Macher, die sich dieser gesellschaftlichen Realität verschließen, müssen in Zukunft mit noch schmerzlicheren Niederlagen rechnen.

Die Bedürfnisse der „neuen“ Wähler – wo auch immer sie ihre Unzufriedenheit politisch gerade verortet sehen – sind auch die Bedürfnisse einer neuen Generation von Konsumenten. Ebenso wenig wie die Politik dürfen auch die Wissenschaft, die institutionalisierte Kultur und die Wirtschaft sich ihnen beleidigt verschließen, nur weil sie das Spiel anders spielen als gewohnt. Die Werte lautstark unzufriedener Netzwerker nämlich werden schnell zu gesellschaftlichen Lauffeuern. Die Vergangenheit und die Gegenwart Berlins sind reich an solchen Erfolgsgeschichten.

Handlungsempfehlung: Geben Sie Ihrer Unzufriedenheit ein Ventil!

Ein erheblicher Teil der Berliner Wähler hat seine Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Realpolitik durch die Stimmvergabe an die Piratenpartei ausgedrückt. Was auch immer Sie politisch davon halten mögen: Wahlen sind letztlich dazu da, die Stimmen der Bürger sichtbar zu machen – auch die unbequemen. Wie machen Sie Ihrer Unzufriedenheit Luft, wenn Ihnen die Tagespolitik, Ihr Chef oder Ihr Umfeld gegen den Strich gehen? Ob in der Parteipolitik, in den Medien oder bei der Feedbackrunde in der Firma: Unzufriedenheit konstruktiv auszudrücken ist urdemokratisch und gehört zur gesellschaftlichen genauso wie zur privaten Seelenhygiene. Schlucken Sie sie nicht runter, sondern verschaffen Sie Ihren Werten Gehör!

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Eine Antwort zu Berlin-Wahl: Die Stimmen der Unzufriedenheit

  1. GME says:

    Danke für das Kompliment, das freut mich natürlich sehr! Ich bleib weiter an der Geschichte dran. Und wie es gerade so ist: Heute Nachmittag kam das Piraten-Thema in einem strategischen meeting mit der Werbeagentur eines Kunden hoch. Thema war, ob es eben nicht doch mehr ist als die Abschöpfung von Protest(wählern) sondern eben die Fassung von Offenheit, Ehrlichkeit, Nähe und Direktheit – was sich so viele wünschen….in diesem Sinne: Es geht weiter…
    gruß

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