Die Piraten haben eine weitere Wahl geentert – die etablierten Parteien aber halten ängstlich an den Zwangsehen der Vergangenheit fest. Die Landtagswahl in Schleswig-Holstein ist ein weiteres Indiz dafür. Die Piratenpartei hat das gegenteilige Problem: Sie hat ihren Platz auch bei dieser Wahl noch nicht gefunden. Inzwischen wirkt es, als wollte sie das auch gar nicht. Der eigentliche Zweck einer Wahl aber kommt in allen Lagern zu kurz: der Auftrag der Wähler zur Erneuerung. Update August 2012: Die Wählergunst schwindet rasant und die Piraten können nur noch 7% verbuchen, was an zahlreichen Gründen liegt, die hier beschreiben werden.
Koalitionspoker statt Bündnispolitik
Als am Sonntag im Mai die Wahllokale schlossen, war die politische Zukunft Schleswig-Holsteins zunächst ungewiss. Die Ergebnisse waren vieldeutig: Theoretisch möglich waren verschiedenste Konstellationen. Die CDU beanspruchte die Regierungsbildung – ohne dass das mit der FDP realisierbar gewesen wäre. Eine große Koalition jedoch verweigerte die SPD. Die FDP findet derzeit schon Grund zum Feiern, wenn sie nur die Hälfte der Wählerstimmen verliert anstatt ganz aus einem Landtag zu fliegen. Die SPD, bei der Stimmverteilung gleichauf mit den Christdemokraten, erklärte sich ebenfalls zum Sieger. Im Gegensatz zur CDU hatte sie allerdings in kürzester Zeit eine Koalition ins Auge gefasst: Mit den Grünen allein reichte es zwar nicht, aber mit der einen Stimme Mehrheit des SSW gerade so. Nun bekommt Schleswig-Holstein eine Dänen-Ampel – ein wackliges Bündnis, das schon einmal im Gespräch war. Einmal mehr zeigte sich nach einer Wahl das altbekannte Muster: Es ging um Stimmen, nicht um Inhalte.
Nach der Wahl haben die Wähler das Nachsehen
Die Wähler müssen dabei zuschauen, wie ihre Vertreter sich der neuen Möglichkeiten verweigern, die die veränderte Parteienlandschaft mit sich bringt. Die Piraten, bei der Stimmzahl in Schleswig-Holstein gleichauf mit der bisherigen Regierungspartei FDP, ist eine dieser Möglichkeiten. Doch die etablierten Parteien setzen sich mit den jungen Wilden erst gar nicht für Koalitionsgespräche an einen Tisch. Einem ganz und gar nicht unerheblichen Teil der Wählerschaft, noch dazu einem wachsenden und zukünftig wichtigen, wird einfach die Zurechnungsfähigkeit abgesprochen, ihr Wille ignoriert. Das Klischee von der Protestwahl ist einfach und hat sich in der Rhetorik der Altvorderen festgesetzt: „Wir sollten die Piraten nicht größer machen, als sie sind“, kommentierte SPD-Chef Sigmar Gabriel jüngst, und CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe höhnte gar, die Piraten stünden „nackt an der Reling“. Sich hinter Polemik zu verstecken aber ist kein adäquates Mittel, abgewanderte Wähler umzustimmen.
Derartige Ignoranz gegenüber demokratischen Verschiebungen wirkt inzwischen nur noch realitätsfremd. Die Herkunft der Piratenstimmen spricht nämlich eine ganz andere Sprache: Wie die Analyse der Ergebnisse aus Schleswig-Holstein zeigt, kamen die Piraten-Wähler dort keineswegs vorrangig aus dem Lager der Nichtwähler, sondern von allen Parteien. Nicht alle Piraten-Wähler, nicht einmal annähernd eine Mehrheit von ihnen, sind einfach „gegen alles“. Wahr ist, dass sie gegen etwas sind – gegen die Politik der Parteien nämlich, für die sie bei der letzten Wahl noch gestimmt hatten. Doch sie sind auch für etwas, nämlich für eine Politik mit anderen Mitteln. Durch die Piratenpartei, die Politik einfach anders machen will als sie bisher gemacht wurde, fühlen sich inzwischen viele Menschen besser repräsentiert – trotz eines Mangels an konkreter Programmatik. Die Wähler geben der Erneuerung eine Chance. Sie sind dazu bereit, ihre wertvollen Stimmen einer Bewegung zu geben, die nicht frei von Risiken ist – aber auch nicht frei von Chancen.
Die nächste Wahl kommt bestimmt
Es wird Zeit, dass die Volksparteien, aber auch etwa die ehemalige Grüne Protestpartei sich am Willen der Wähler orientieren und die Aufforderung zum Umbruch ernst nehmen. Auch die Etablierten müssen Bereitschaft signalisieren, Politik anders zu machen. Sie können das auf einem gewachsenen Fundament tun, über das sie mit ihren Programmen verfügen. Wenn sie tatsächlich inhaltlich überlegen sind, werden sie diese Überlegenheit auch in Wahlergebnisse umsetzen können, sobald sie beginnen, sich auf die veränderten Bedürfnisse der Wähler einzustellen. Solange ihnen diese Erneuerung jedoch nicht gelingt, werden die Piraten weiterhin Zulauf erfahren. Die alten Stammwählerschaften können und werden den Etablierten nicht ewig die Stange halten. Bei der nächsten oder übernächsten Landtagswahl können die Verluste bei CDU und SPD bereits in einem hohen zweistelligen Bereich liegen, wenn sich nichts ändert.
Auch die Piraten müssen eine Wahl treffen
Zehntausende Schleswig-Holsteiner Piraten-Wähler dürfen sich indes zu Recht fragen: Wofür sind wir eigentlich an die Urnen gegangen? Schon kurz nach Bekanntgabe der Ergebnisse ließen die Piraten verlauten, dass sie für keine Koalition zur Verfügung stünden und nicht Bestandteil der Landesregierung werden wollen: „Eine solche Entscheidung steht gar nicht an“, sagte Piraten-Chef Schlömer noch am Abend des Wahlsonntags.
Mitreden, aber nicht mitregieren? Durch solche Ausweichmanöver können die Piraten ihren gerade erst erlangten politischen Einfluss ganz schnell wieder verlieren. Indem sie sich der Verantwortung entziehen, die die Wähler ihnen zugesprochen haben, ignorieren sie ihren demokratischen Auftrag genauso wie die etablierten Parteien, die nicht mit ihnen arbeiten wollen. Wozu tritt eine Partei in einer Wahl an, wenn nicht um regieren zu können? „Mitreden“ können die Piraten auch von außen – im politischen Gefüge eines Landesparlaments aber ist die Bereitschaft zur Regierungsverantwortung unabdingbar. Mit ihrer Weigerung, Verantwortung zu übernehmen, bestärken die Piraten das Klischee von der Protestpartei: So ist es leicht, ihnen vorzuwerfen, sie wollten nur Stimmen fischen, hätten aber im Ernstfall keine politische Kompetenz und keine Ziele vorzuweisen, die sie in die Landespolitik einbringen könnten. Wer möchte einen Spieler im Team haben, der zwar in der Mannschaftsaufstellung auftauchen will, im Spiel aber keinen Beitrag leistet und alle Steilvorlagen ins Aus laufen lässt?
Mit dem Eintritt in den politischen Betrieb haben die Piraten auch die Risiken der Politik auf sich genommen. Sie müssen sich an ihren Vorsätzen messen lassen. Wer ankündigt, Politik anders zu machen, sich dann aber weigert, überhaupt Politik zu machen, kann nicht mit weiterhin wachsenden Stimmzahlen rechnen. Der Welpenschutz für die Piraten ist längst ausgelaufen: Eine Partei, die in drei Landesparlamenten sitzt und in zweien davon mehr Stimmen erhält als eine Partei, die an der Bundesregierung beteiligt ist, muss anfangen Inhalte zu liefern. Die Piraten kommen nicht länger umhin, sich zu positionieren – sonst stolpern sie über ihre eigenen Füße und müssen sich am Ende vorwerfen lassen, dass sie eben doch nur als Protestpartei wählbar waren. In diesem Fall müssten sie die Schuld bei sich selbst suchen, wenn sie innerhalb weniger Jahre wieder von der Bildfläche verschwinden würden.
Fouls und Fehlpässe
Wäre das politische Kräftemessen zwischen den Etablierten und den Piraten ein Fußballspiel, wäre das Publikum vom bisherigen Spielverlauf maßlos enttäuscht. Der Traditionsclub kommt mit der Spielweise der jungen Wilden nicht zurecht und schafft es nicht aus der eigenen Hälfte heraus. Den müden Spielern scheint die Energie zu fehlen, sich auf die neue Art von Fußball einzustellen. Dramatischer noch: Es fehlt am Willen, es überhaupt zu versuchen. Die frische Piratenmannschaft allerdings offenbart massive Schwächen im Abschluss und verwandelt aufgrund technischer Mängel ihre Chancen nicht. Eine öde Partie, die nur Verlierer kennt.
Was also muss geschehen? Beide Mannschaften müssen beginnen, für die Fans zu spielen. Nicht nur für einen kleinen, eingeschworenen Fanclub, sondern für alle Fußballbegeisterten. Der Sport muss im Mittelpunkt stehen.
Es ist nicht nötig, nicht einmal wünschenswert, dass die Piraten sich stärker auf die Inhalte der Etablierten zu bewegen. Genauso wenig dürfen die großen Parteien (die Grünen eingeschlossen) einfach Themen von den Piraten kopieren, um sie in den Einheitsbrei ihrer Programme einzurühren. Davon können sie nicht profitieren: Die reflektierten jungen Wähler geben den Piraten nicht einfach nur ihre Stimme, damit sie weiterhin kostenlose Downloads nutzen können. Sie wählen die Piraten, weil sie sich eine andere Art von Politik wünschen: Eine, in der sie wieder mitreden dürfen. Eine, die sie überhaupt erst verstehen können, weil sie wieder transparenter wird. Eine, die sich tatsächlich an Wählerbedürfnissen orientiert anstatt am Machterhalt. Die vielbeschworene Politikverdrossenheit nämlich haben die Parteien sich selbst zu verdanken: Mit Tarnen und Täuschen begeistert man im Informationszeitalter niemanden für Politik.
CDU, SPD, FDP und Grüne müssen verstehen, dass die Menschen das demokratische Element von Politik wieder einfordern. Dabei geht es nicht um Anarchie, sondern um Mitsprache. Wenn Politiker aller etablierten Parteien eine freiheitliche, friedliche, durchaus werteorientierte Tendenz im Wählerverhalten unisono als frustgesteuertes Protestgebaren abkanzeln, dann stimmt mit der momentan gelebten Demokratie etwas nicht.
Mehr Spielfreude in der Politik
Von den Methoden der Piraten können sich die Alten eine Scheibe abschneiden – nicht nur in der Landespolitik. Die Politik kann die Generation Netzwerk nur erreichen, wenn sie lernt, ihre Sprache zu sprechen. Wie ungeschickt sich die alten Herren dabei anstellen, zeigt das Beispiel von Horst Seehofers Facebook-Party. Angesichts des angekündigten Ansturms regte sich bei ihm und seinem Team – dürftig verschleiert – Angst. Diese Angst vor den Bürgern und ihrem freien Willen ist es, was in der Politik jede echte Innovation blockiert. Es ist an der Zeit, dass die Entscheidungsträger der Parteien ihre Scheuklappen ablegen. Ängste wirken magnetisch: Wer in Schockstarre verharrt, wird vom Wandel irgendwann genauso überrollt, wie er es sich in seinen schlimmsten Alpträumen ausmalt.
Doch auch die Piraten müssen aufhören, demokratische Signale mit Siegen zu verwechseln: Wenn die Protagonisten der Bewegung den Auftrag der Wähler verweigern und sich auf Gastrollen als Nörgler beschränken wollen, dann ist ihre Partei nicht reif für politische Verantwortung. Die Piraten dürfen nicht länger zögern, sich mit Leib und Seele auf ihre Mission einzulassen. Politik ist kein Ferienprojekt, sondern eine Verpflichtung.
Auch die Piraten müssen sich für ihre Inhalte nicht schämen. Es ist durchaus möglich, sich auf Werte festzulegen, ohne in eine Starre zu verfallen. Inhaltliche Dynamik ist nicht gleichbedeutend mit Beliebigkeit oder dem ewigen Sog der Mitte. Gerade in der Politik ist Innovation erlaubt, gerade hier brauchen wir Visionäre. Genau an dieser Stelle können die Piraten es besser machen als andere vor ihnen. Sie haben die Wahl. Doch es führt auch für sie kein Weg daran vorbei: Man muss Politik machen, um Politik zu machen. Und sie sollten, nein, sie dürfen bei zukünftigen Wahlen nicht ohne Konkurrenz sein. Auch die Etablierten müssen wieder Spielfreude entwickeln, anstatt nur Eigentore zu schießen.
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Ich für meinen Teil möchte ein spannendes Spiel auf hohem Niveau sehen, aus dem ein verdienter Sieger hervorgeht: die Demokratie. Welche Mannschaft gewinnt, ist für die Freude am Fußball zweitrangig. Mir geht es um den Sport.
Demokratie gestalten: 10 Dos und Dont‘s zukunftsorientierter Politik
- Politik ist kein Selbstzweck: Das Ziel von Politik ist eine funktionierende Demokratie, nicht der Machterhalt von Personen oder Parteien.
- Schluss mit den Zwangsehen: Koalitionen müssen auf Inhalten und gemeinsamen Visionen beruhen, nicht auf Mathematik – selbst wenn die Folge zunächst der Gang in die Opposition ist.
- Der Wähler ist König: Über Inhalte entscheiden langfristig die Bürger, nicht die Parteiführungen. Die Politik muss zurück zur Grundidee der Demokratie, indem sie den Bürgern konstruktive Lösungsvorschläge zum Wohle der Gemeinschaft unterbreitet.
- Hierarchien verhindern Augenhöhe: Wer der Basis die Zurechnungsfähigkeit abspricht, entmündigt letztendlich nur sich selbst. Die Zeit der Elfenbeintürme ist vorbei!
- Angst ist ein schlechter Lehrmeister: Wer Veränderungen aus Angst vor dem Machtverlust blockiert, wird vom werteorientierten Wandel überrannt.
- Mut zur Erneuerung: Wenn die Wähler für Veränderungen stimmen, muss die Politik diesem Auftrag folgen, anstatt ihn durch notdürftige Koalitionen zu umgehen.
- Innovation ist nicht gleich Anarchie: Die Sehnsucht der Bürger nach Veränderung ist kein Virus, sondern eine Chance für die Politik.
- Kreativität ist Trumpf: Neuen Herausforderungen kann man nicht mit alten Konzepten begegnen. Die Strukturen und Kader der Parteien müssen sich vielmehr für Impulse von der Basis und der breiten Bevölkerung öffnen.
- Scheitern ist keine Schande: Jeder Neuanfang birgt Risiken – auch davon profitiert die Demokratie langfristig.
- Opportunismus wird immer bestraft: Jede Partei muss sich an ihren Wahlversprechen messen lassen. Die neue Netzwerk-Transparenz sorgt dafür, dass kein Wortbruch, keine Leiche dauerhaft im Keller bleibt.