Das Drama in mehreren Akten um Bundespräsident Christian Wulff ist ein Trauerspiel über die Transparenz von Persönlichkeiten in der Politik. Wer in diesem Land einen hohen politischen Posten bekleidet, scheint mit den Amtswürden einen automatischen Anspruch auf Absolution zu erlangen: Zugeben muss ich nur, was mir bewiesen werden kann. Eine Garantie, dass nun keine weiteren Enthüllungen mehr zu erwarten seien, mochte Wulff, nach der Offenlegung seiner Verhinderungsanrufe an den gewichtigsten Schreibtischen des Axel-Springer-Konzerns, auch im ARD/ZDF-Interview vom 4. Januar 2011 nicht geben.
Spätestens mit seiner heutigen Weigerung, der Veröffentlichung seiner Mailbox-Nachricht an BILD-Chefredakteur Kai Diekmann zuzustimmen, macht Wulff sich endgültig unglaubwürdig: Wer mag jetzt noch davon ausgehen, dass seine dort aufgezeichneten Worte ihn nicht erneut als Salami-Taktiker entlarven würden? Und an welchem Maßstab sollen wir Politiker messen, wenn nicht an dem ihrer charakterlichen Eignung? Dass der oberste Amtsträger Deutschlands zur Transparenz gezwungen werden muss, die in dieser Vorbildrolle eine Selbstverständlichkeit sein sollte, ist eine demokratische Tragödie. Welche verdrehte Ethik, welche persönliche Überzeugung hält den Bundespräsidenten im Amt?
Von Menschen und Bundespräsidenten
Es mutet an als hätte Christian Wulff, der Volljurist, darauf eine bequeme Antwort gefunden: Das Amt und er, das sind ganz einfach zwei verschiedene Paar Schuhe. Im Interview mit Bettina Schausten und Ulrich Deppendorf jedenfalls mühte der Bundespräsident sich redlich, die Diskussion auf eine rein private Ebene zu ziehen, von der aus sich menschelnd argumentieren lässt: Alle – eingeräumten – Fehler habe der Mensch Wulff gemacht, nicht aber der Bundespräsident Wulff. Und dafür solle man doch Verständnis aufbringen. Kredite zu vergünstigten Bedingungen? Das darf nicht verboten sein. Ein „emotionaler“ Anruf beim BILD-Chefredakteur, um die Pressefreiheit mal kurz flexibel zu gestalten? Kann doch jedem mal passieren, muss deswegen nicht jeder hören.
Wulffs Argument, die ihm vorgeworfenen Verfehlungen stammten aus der Zeit vor der Präsidentschaft, verpufft spätestens hier: Seinen größten Fehler, den Eingriff in die Pressefreiheit, hat er von Schloss Bellevue aus gemacht.
Ein Mann, ein Amt
Nun könnte man Christian Wulff zugutehalten, dass er versucht, Schaden vom Amt des Bundespräsidenten abzuwenden, indem er alle Fehler auf seine persönliche Kappe nimmt. Nur liegt in dieser Taktik ein entscheidender Fehler: Den Medien zwischen den Zeilen seiner Äußerungen einen unsachgemäßen Umgang mit seinen Affären vorzuwerfen, zielt auf das Klischee der Sensationshascherei. Umfragen und Forenbeiträge von Volkes Seite im Zuge der Affäre aber zeigen deutlich: Das Volk interessiert sich nicht so sehr für den Privatmann Christian Wulff. Das Volk interessiert sich vielmehr dafür, von wem es repräsentiert wird. Der Bundespräsident hingegen zeigt sich „überrascht“ über den Aufklärungswillen seitens der Bürger.
Zudem scheint es als glaube er, die öffentliche Meinung verlange nach einem unbefleckten, von aller Schuld freien Staatsoberhaupt, über jeden Zweifel erhaben. Weit gefehlt, und deshalb geht die Ratio einer Trennung von Amt und Persönlichkeit nicht auf: Die Menschen wollen sehr wohl einen Menschen aus Fleisch und Blut an der Spitze des Staates – der auch Fehler machen kann. Sie wollen einfach nur keinen Heuchler. Der Bundespräsident ist das Gesicht der Republik. Wir wollen in dieses Gesicht blicken und darauf vertrauen können, dass ein Mensch mit Charakter vor uns steht, der uns vorsteht. Ganz anders fielen die Reaktionen auf Wulffs Verfehlungen aus, würde er diesen Eindruck erwecken. Mir persönlich ist es völlig egal, wo der Präsident seinen Urlaub verbringt, solange ich ihn nicht mit meinen Steuern bezahle.
Ich verübele Christian Wulff nicht seine Menschlichkeit. Ich verübele ihm seine Weigerung, jetzt, wo es darauf ankommt, die Verantwortung für dieses Amt zu übernehmen, obwohl er genau das verkündet. Vom Bundespräsidenten meines Landes erwarte ich nicht, dass er sich als Mensch vor (und über) sein Amt stellt. Ich erwarte, dass er als Persönlichkeit für sein Amt steht. Und ich wünsche mir, dass er dieses Amt verkörpert, so wie es andere Politiker vor ihm getan haben. Wenn ein Mann sich dazu nicht in der Lage sieht, weil er keine „Karenzzeit“ beim Übergang zwischen den Ämtern hatte, dann gehört er nicht auf diesen Posten.
Wie soll Wulff für dieses Land stehen, wenn er noch nicht einmal für sich selbst als geeigneten Bundespräsidenten einstehen kann?
Das Gesicht der politischen Unkultur
Die Causa Wulff ist ein in seiner Deutlichkeit seltenes, und doch nur eines von vielen Symptomen für den Zustand der politischen Kultur, die viel zu oft einzig auf den Regeln des Machterhalts beruht. Bundespräsident wurde im Juni 2010 nicht der geeignetste Mann, sondern der, der – eben aufgrund seines Talents zum Machtkalkül – der Kanzlerin langfristig hätte gefährlich werden können. Seitdem ist das Gesicht der Bundesrepublik ebenso uncharismatisch wie die Politik jener, die faktisch das Land regieren. Und den Würdenträgern an beiden Adressen scheint das so recht zu sein, denn beiden scheint Macht als Motiv der Amtsausübung zu genügen.
Wulff hätte dem Amt ein würdevolles Gesicht geben können, wenn er statt den Medien an irgendeinem Punkt in den letzten 18 Monaten seine Kollegen Politiker zur Ordnung gerufen hätte. Darauf hat er verzichtet. Nun hat er den Grund dafür ungewollt offengelegt: Einer, der nicht einmal für die eigenen Fehler geradestehen mag und sich trotzdem noch am richtigen Platz sieht, der wird natürlich keine Steine in die eigenen Reihen werfen. Wer verhindern will, dass seine Persönlichkeit mit seinem Amt in zu enge Verbindung gebracht wird, dessen Integrität gegenüber diesem Amt – und dem Volk – kann nicht sehr groß sein.
Transparenz ist, was die Politik nicht verheimlichen kann
Das einzig Erfreuliche am aktuellen Staatstheater ist, dass sich einmal mehr erweist: Selbst in Regierungskreisen wird es mit dem Erstarken des mündigen Informationsbürgertums immer schwieriger, Leichen im Keller zu verstecken. Doch dieser Weg hat erst begonnen. Was dem politischen System Berlin noch immer fehlt ist Transparenz und der Mut, zu den erklärten Werten der Gemeinschaft zu stehen.
Die Gewissenskrise der Politik liegt bloß und wird gerade daran erkennbar, dass die Transparenz ausgerechnet aus Politikermunde allgegenwärtig ist. Geradezu verzweifelt klammert sich Wulff an das Wort, wie andere Vertreter der etablierten Eliten vor ihm: Vergünstigungen beim Privatkredit? Wulff verspricht Transparenz bei der Aufklärung, räumt aber nur ein, was schon bewiesen ist – und wird beim Zurückhalten von Fakten ertappt. Drohanrufe bei Medienvertretern? Wulff kündigt Transparenz an, und unterbindet prompt am nächsten Tag die Veröffentlichung der Mailbox-Nachricht. Ende der Enthüllungen? Wulff beteuert Transparenz, will aber kein Versprechen abgeben.
So wie andere Werte gesellschaftlichen Miteinanders wird die Transparenz in den Händen der Postenverwalter sinnentleert und zum PR-Instrument pervertiert. In den Händen von Christian Wulff wird sie dieser Tage zur rhetorischen Maßeinheit des Machtmissbrauchs. Ich mag nicht mehr zuhören, wie Machtkalkül in Wertefloskeln gehüllt wird. Wir haben ein Recht auf die Transparenz, die mit der Amtswürde des Bundespräsidenten und jedes anderen politischen Amtes einhergeht. Wir haben das Recht, die Persönlichkeiten in den Ämtern an ihrer Wertekongruenz zu messen.
Deshalb bin ich dafür, heuchlerische Aussagen von Personen der öffentlichen Wahrnehmung ab heute in einer neuen Maßeinheit anzugeben, für die Wulff Pate stehen könnte. Und Bettina Schausten bekommt für ihre Äußerung während des Präsidenten-Interviews, dass sie Freunden angeblich 150 Euro für private Übernachtungen bezahle, gleich einmal eine 5 auf der nach oben offenen Wulff-Skala.
Handlungsempfehlung: Über den Bundespräsidenten als Gesicht des Landes sollten die Menschen entscheiden!
Der Schachzug Angela Merkels, den potenziell für ihre Macht gefährlichen Politstrategen Wulff auf das Amt des Bundespräsidenten wegzuloben, kostet den deutschen Steuerzahler 200.000 Euro jährlich – bis zu dessen Lebensende. Für diese Summe dürfen wir einen Bundespräsidenten erwarten, der seines Amtes würdig ist. Die Wahl des Bundespräsidenten sollte deshalb von der politischen Gemengelage abgekoppelt und dem Volk übertragen werden. Ein Bundespräsident, von dessen Persönlichkeit sich weder bei Amtsantritt noch 18 Monate später jemand ein Bild machen konnte, bis er an einem Skandal scheitert, der auf eben dieser Gesichtslosigkeit beruht, ist dem wachsenden Wertebewusstsein der Menschen nicht mehr gewachsen. Schon gar nicht kann ein solcher Kandidat seine Autorität als über den Parteien und der Regierung stehendes Staatsoberhaupt ausüben. Wer nur aus Machtkalkül in ein zahnlos gehaltenes Amt gehievt wird, wird auch nur in diesem Sinne agieren. Auch hier, an der repräsentativen Spitze der deutschen Gesellschaft, ist es Zeit für einen radikalen Umbruch: Wir brauchen eine Persönlichkeit an der Spitze, die dieses Amt proaktiv ausfüllt. Das kann nur eine Persönlichkeit, die das Vertrauen der Menschen genießt – und als deren oberster Vertreter auch vom Volk bestimmt wird.